Geheim gehaltene Atomkatastrophe

Der Atomunfall von Kyschtym

Karl-Heinz Szeifert 11 Feb, 2019 00:00

Eine Stunde Aufenthalt am Ufer des Karatschai-Sees reicht für eine tödliche Dosis! Erst 1989 wurde der Unfall auf einer Sitzung des Obersten Sowjet der Sowjetunion bekanntgegeben.

Der Karatschai-See und die Katastrophe von Kyschtym.

Harrisburg - Tschernobyl - Fukushima - über diese Atomunfälle ist jedermann mehr oder weniger gut informiert.

Aber bereits am 29. September 1957 ereignete sich in der Kerntechnischen Anlage Majak (östlich des Urals) , einer Anlage zur industriellen Herstellung spaltbaren Materials in der Sowjetunion ein Unfall, der als drittschwerster Unfall der Geschichte, nach den Katastrophen von Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011), eingestuft wird. Bei diesem Unfall wurden sehr große Mengen radioaktiver Substanzen an die Umwelt abgegeben.

Unbemerkt von der Öffentlichkeit ereignete sich an diesem Tage der erste folgenreiche Atomunfall. Sein Ausmaß ist mit dem von Tschernobyl vergleichbar. Erst 1989 wurde der Unfall, der sich auf dem Gelände der Produktionsanlage Majak in der heutigen Stadt Osjorsk ereignet hatte, auf einer Sitzung des Obersten Sowjet der Sowjetunion bekanntgegeben. Man bezeichnete ihn als „Strahlenunfall von Kysthym“, da Osjorsk, dessen früherer Name Tscheljabinsk 40 und später Tscheljabinsk 65 lautete, eine der geheimen Städte war und bleiben sollte, die es auf keiner Landkarte gab. Der Strahlenunfall von Kysthym war demnach eigentlich der Strahlenunfall von Majak.

Was war geschehen:
Die bei der Aufbereitung der abgebrannten Uranbrennstäbe zur Gewinnung des spaltbaren Plutonium-239 angefallenen, hochradioaktiven flüssigen Rückstände wurden in großen Tanks gelagert. Diese mussten gekühlt werden, weil durch den radioaktiven Zerfall der Stoffe Wärme entstand. Nachdem im Laufe des Jahres 1956 die Kühlleitungen eines dieser 250 Kubikmeter fassenden Tanks undicht geworden waren und die Kühlung ausfiel, begannen die Inhalte dieses Tanks zu trocknen. Am 29. September 1957 löste der Funke eines internen Kontrollgeräts eine Explosion der auskristallisierten Nitratsalze aus. Es handelte sich um eine chemische (keine nukleare) Explosion, die große Mengen radioaktiver Stoffe freisetzte. Darunter befanden sich langlebige Isotope wie z. B. Strontium-90 (Halbwertszeit 29 Jahre), Cäsium-137 (30 Jahre) und Plutonium-239 (24.110 Jahre).

Aus den am schlimmsten betroffenen Gebieten der Tetscha-Auenlandschaft wurden Menschen umgesiedelt. Verlassene Orte wurden dem Erdboden gleichgemacht. Nur die Gotteshäuser blieben verschont. Sie stehen heute einsam in der radioaktiv belasteten Landschaft.

Insgesamt wurde durch den Unfall nach Angaben der Produktionsfirma Majak und der Behörden Materie mit einer Radioaktivität von 400 PBq (400.000.000.000.000.000 Bq) über einen Bereich von etwa 20.000 Quadratkilometern verteilt. Der Unfall ist damit hinsichtlich der Radioaktivität des freigesetzten Materials vergleichbar mit der Tschernobyl-Katastrophe. Andere Quellen sprechen von deutlich höheren Mengen freigesetzter Radioaktivität. Etwa 90 % des radioaktiven Materials verblieb auf dem Betriebsgelände, 10 % wurde durch Winde bis zu 400 km in nordöstliche Richtung verteilt, entlang der sogenannten Osturalspur.

Abb.1 - Ostural-Spur

Das betroffene Gebiet von 20.000 km² hatte damals etwa 270.000 Einwohner. Ein etwa 1.000 km² großes Gebiet, das mit mehr als 74 kBq pro Quadratmeter mit Strontium-90 verseucht war, wurde sieben bis zehn Tage später evakuiert. Verschiedene Quellen sprechen von 600 bis 1.200 Betroffenen.


Abb. 1 - Karte der Ostural-Spur: In Folge des Kyschtym-Unfalls kontaminierte Gebiete. Die rot eingezeichneten Gebiete markieren die durch den Kyschtym-Unfall unterschiedlich stark kontaminierten Regionen. 1 Curie (Ci) entspricht dabei 3,7·1010 Becquerel (37 GBq).


Die durchschnittliche Äquivalenzdosis auf das Knochenmark der 1054 Bewohner der drei am nächsten gelegenen Dörfer betrug etwa 570 Millisievert. Acht Monate darauf wurden weitere 6.500 Personen aufgrund der Kontamination ihrer Nahrung in Sicherheit gebracht. Insgesamt wurden etwa 10.700 Personen umgesiedelt. Ein Großteil dieser Personen wurde nicht gezielt medizinisch überwacht, so dass keine belastbaren Aussagen über gesundheitliche Folgen für Personen aus den evakuierten Gebieten gemacht werden können.[

Schon ab dem Jahre 1951 nutzte die Sowjetunion den Karatschai-See als Lagerstätte für radioaktiven Abfall aus Majak, dem nahe gelegenen nuklearen Zwischenlager und Wiederaufbereitungsanlage, in der Nähe von Osjorsk (damals Tscheljabinsk-40). Der Karatschai-See ist ein See im südlichen Ural in der Nähe der Stadt Kyschtym in der russischen Region Tscheljabinsk.

Zwischen 1949 und 1951 wurden atomare Abfälle aus der Atomanlage Majak zunächst ausschließlich direkt in das Tetscha-Flusssystem entsorgt. Sehr schnell traten massenhaft Folgen von Strahlungsschäden (u.a. Lungenkrebs und Leukämie) bei der Bevölkerung der Umgebung und den Arbeitern der Anlage auf. Zur Vermeidung dieser Gesundheitsschäden wurden ab 1951 die Abfallströme nach und nach in den Karatschai-See umgeleitet. Diese Praxis hielt bis 1953 an. Danach begann man den Abfall in Tanks zu deponieren und die Einleitungen in den See wurden deutlich reduziert. Einer jener Tanks explodierte schließlich 1957 bei der Katastrophe von Kyschtym.

In den 1960ern begann der See auszutrocknen. Seine Oberfläche verkleinerte sich von 0,5 km² im Jahr 1951 auf 0,15 km² Ende 1993. Nach einer Trockenheit trug der Wind im Jahre 1968 radioaktiven Staub von der trockengefallenen, früher vom See bedeckten Fläche weg und belastete eine halbe Million Menschen sowie eine Fläche von 1.800 km² mit 185 Peta-Becquerel an Strahlung (fünf Millionen Curie),eine ähnliche Strahlungsdosis wie sie in Hiroshima nach dem Abwurf der Atombombe Little Boy freigesetzt wurde.

Zwischen 1978 und 1986 wurde der See mit Beton aufgefüllt und vollständig abgedeckt, um weitere Sedimentbewegungen zu verhindern.
In der Nähe des Sees steht das nie in Betrieb genommene Kernkraftwerk Süd-Ural.

Die Strahlungsintensität am Ufer des Sees lag vor oder um 1991 im am stärksten belasteten Bereich bei 600 Röntgen pro Stunde (R/h), was einer Dosisleistung von etwa 6 Gray (Gy) pro Stunde entspricht. Ungeschützt wäre diese Strahlung für einen Menschen bereits nach einer Stunde tödlich. Ein anderer Vergleich: Während einer Flugreise in 12.000 m Höhe ist man 25 μGy/h (Mikrogray pro Stunde) ausgesetzt und der Jahresgrenzwert für beruflich strahlenexponierte Personen in Deutschland beträgt 20 mGy. Laut russischen Wissenschaftlern riskiert jeder, der sich in der Nähe des Sees aufhält, eine akute Strahlenkrankheit.

Es kann für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden, dass das Wasser des Sees über Grundwasserströme in Kontakt mit dem Fluss Tetscha und damit dem Ob kommt. Auf diese Weise könnte die Radioaktivität auch den Arktischen Ozean erreichen. „Wenn sich die Radioaktivität des Karatschai-Sees in den Arktischen Ozean, eine der letzten großen Wildnisse, ergießen sollte, könnte sie die halbe Erde erreichen.

Bereits vor der Katastrophe von 1957 setzte die sowjetische Regierung die Bewohner von Dörfern entlang dem Fluss Tetscha der Gefahr durch Radioaktivität aus. Auch im "Normalbetrieb" von Majak wurden hochradioaktive Abwässer, die bei der Produktion von Plutonium für Atombomben anfielen, einfach in den kleinen Fluss geleitet

Laut eines Berichts des Worldwatch Institutes zu radioaktivem Abfall ist Karatschai der „am stärksten verschmutzte Ort“ der Erde. Der See enthielt 1990 radioaktives Material mit einer Aktivität von rund 4,44 Exa-Becquerel (EBq), darunter 3,6 EBq aus Caesium-137 und 0,74 EBq aus Strontium-90 (wovon jetzt (2009) noch etwa zwei Drittel übrig sein dürften; allerdings kommen noch immer neue Immissionen hinzu). Zum Vergleich: Bei der Katastrophe von Tschernobyl wurden insgesamt Material mit einer Aktivität zwischen 5 und 12 EBq freigesetzt. Diese verteilen sich jedoch auf ein weitaus größeres Gebiet.

In der INES-Skala stellt der Unfall von 1957 ein Ereignis der zweithöchsten Kategorie 6 dar. Nach Angaben des Helmholtz Zentrum München wurden die Auswirkungen des Unfalls lange Zeit unterschätzt.

Im Unterschied zur Katastrophe von Tschernobyl wurde das Material lokal und regional verteilt. Der heftige Graphitbrand in Tschernobyl beförderte einen Großteil der Radionuklide hoch in die Atmosphäre hinauf, während bei Majak aufgrund geringerer Thermik eine bodennahe Wolke entstand. Die hohe Konzentration der Radioaktivität, mangelnde Aufklärung der Bevölkerung, die nicht flächendeckende Evakuierung der Gegend und unzureichende Dekontamination führten zu hohen Schäden in der betroffenen Region. Eine genaue Opferzahl kann nicht angegeben werden, da keine belastbaren Studien und Untersuchungen vorliegen. Eine Vergleichsrechnung auf Basis der von den Behörden angegebenen radioaktiven Belastung schätzt etwa 1000 zusätzliche Krebsfälle durch den Unfall.


Quellen:

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