Schönheitsideal: Deformierte Füße

Der Lotusfuß

Karl-Heinz Szeifert 15 May, 2018 00:00

Als Lotus- oder Lilienfüße bezeichnete man die Füße der Frauen im Kaiserreich China, die durch extremes Einbinden und Knochenbrechen zu Gunsten eines etwa tausend Jahre lang anhaltenden Schönheitsideals verkrüppelt wurden.

Normaler und abgebundener Fuß

Der Brauch des Füßebindens geht angeblich auf eine Geliebte des Kaisers Li Houzhu zurück, des letzten Kaisers der Tang-Dynastie (975). Diese Tänzerin bandagierte sich die Füße, um auf der goldenen, lotosblütenförmigen Bühne, die der Kaiser ihr bauen ließ, besondere Leistungen vollbringen zu können.

In dieser Zeit wurden die Füße aber nur locker bandagiert, vergleichbar dem Spitzenschuh einer Ballerina, und es kam nicht zu Verstümmelungen wie später. Während des Neokonfuzianismus wurden die Rechte und Möglichkeiten der Frauen beschränkt, und ab der Song-Dynastie war es üblich, die Füße von Mädchen aus den gehobenen Schichten ab dem frühen Kindesalter (die Zahlen schwanken) dergestalt einzubinden.

Röntgenbild abgebundener Füße

Der Brauch verbreitete sich bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts in allen Schichten der Bevölkerung; mit Ausnahme der ärmsten Bauern, die für die Feldarbeit Frauen mit intakten Füßen benötigten. Auch die Mandschus, die von 1644 bis 1911 China regierten, und die Mongolen schlossen sich diesem Brauch nicht an. Im Gegensatz zu den Han-Chinesen hielten die Mandschuren nichts von Lotosfüßen, daher konnte man Mandschurinnen leicht an ihren normal entwickelten Füßen erkennen.

Den meisten Mädchen wurden die Füße im Alter von fünf bis acht Jahren von der Mutter oder der Großmutter abgebunden. Zunächst wurde der Fuß in einer Flüssigkeit aus Kräutern und Alaun eingeweicht, die Zehnägel so kurz wie möglich geschnitten, um ein Einwachsen und damit einhergehende Infektionen zu vermeiden und der Fuß dann massiert. Der Fuß wurde anschließend so eng mit Bandagen umschlungen, dass er im Wachstum gehemmt und zum Klumpfuß verformt wurde. Dann wurden die Mädchen gezwungen, mit kleinen Schnabelschuhen zu laufen, um die Durchblutung der Füße zu fördern.

Lutußfuß ohne Bandagen

Mit Ausnahme der großen Zehe wurden alle Zehen gebrochen und unter die Fußsohle gebogen. Den jungen Mädchen wurden die Zehen dabei alle zwei Tage erneut mit nassen und immer engeren Bandagen, die beim Trocknen auch wiederum enger wurden, unter die Fußsohle geschnürt, damit sie schmale, spitze Füße bekamen. Wenn es gelungen war, die Füße auf diese Weise zu deformieren, konnten die Frauen keine weiteren Strecken mehr gehen.

Als ideale Fußlänge galten zehn Zentimeter, was etwa der Schuhgröße 17 entspricht.

Tatsächlich erreichten jedoch nur wenige Frauen diese Länge. Die meisten abgebundenen Füße maßen im Durchschnitt 13 cm bis 14 cm. Lebenslange Schmerzen und die körperliche Behinderung wurden selbstverständlich akzeptiert und machten junge Frauen bei Männern attraktiv.

Es kam sogar vor, dass Männer gar nicht mehr auf das Gesicht ihrer Braut achteten, wenn nur die Füße klein waren, und dass Frauen mit größeren Füßen gesellschaftlicher Ächtung unterlagen.

Lotusfuß mit Bandagen

Die eingeschränkte Bewegungsfähigkeit ließ viele Frauen zudem fülliger werden, was ebenfalls dem damaligen Schönheitsideal entsprach. Die Eltern betrachteten das Abbinden der Füße in der Regel als notwendige Investition in die Zukunft ihrer Töchter.

In der Regel wurden die Bandagen parfümiert und kunstvoll gestaltete, kleine Spezialschuhe getragen. Bandagen und Schuhe wurden meist auch im Bett anbehalten, um das weitere Wachstum der Füße zu verhindern und Entzündungen und faulige Gerüche zu kaschieren. Spezialschuhe für otusfüße wurden bis 1988 hergestellt.

Spezialschuhe für Lotosfüßel

Frauen mit Lotosfüßen waren meist nicht mehr in der Lage, sich ohne fremde Hilfe weitere Strecken fortzubewegen. Zu dieser Zeit galt es gar als unschicklich für eine wohlhabende Frau, das Haus zu verlassen. Die reichen Frauen ließen sich sowieso in einer Sänfte tragen, die von allen Seiten verhängt war. Mit der Zeit verband sich das Schönheitsideal kleiner Füße mit der Tugend, das Haus nicht zu verlassen, so dass das Füßebinden in den oberen Bevölkerungsschichten allgemein üblich und zum Zeichen von Wohlstand wurde.
Lediglich die Töchter ärmerer Familien aus der Landwirtschaft bekamen die Füße in der Regel nicht abgebunden, da sie bei der Feldarbeit benötigt wurden.

Der kleinschrittige Gang solcher Frauen wurde von chinesischen Dichtern und Poeten als erotisch beschrieben und die kleinen Füße häufig als der erotischste Teil des weiblichen Körpers wahrgenommen. Angeblich weckten die hilflosen Bewegungen dieser Frauen den „Beschützerinstinkt“ der Männer. Die Prozedur der Verformung verursachte eine verminderte Fortbewegungsfähigkeit der Frau, was wahrscheinlich ähnlich erotisierend auf Männer wirkte wie Bondage-Szenarien. Zudem bewirkte sie Trippelschritte, deren erotische Ausstrahlung der von Stöckelschuhen ähnelt. Außerdem sollte der schwankende Gang die Oberschenkelmuskulatur kräftigen und die Vagina verengen.

Ältere Frauen mit Lotusfüßen

in Yunnan, China, August 2010

Während die Stellung der Frauen zur Zeit der liberal geprägten Tang-Dynastie innerhalb der Familie und der Ehe von Achtung und Selbstbewusstsein geprägt war, änderte sich dieses Rollenbild allmählich während der darauffolgenden Song-Dynastie. Die zeitgleich aufkommende Mode der Lotosfüße begünstigte dabei die zunehmend unterwürfige Position der Frau. Aufgrund der stark eingeschränkten Bewegungsfähigkeit waren Frauen meist zu Hause und entsprechend ihren Möglichkeiten an den Haushalt gebunden. Sie waren somit ihren Männern unterworfen und stellten zudem keine Bedrohung für die männliche Oberherrschaft dar. Ebenso waren sie den Umständen zufolge zur Treue gezwungen.
1911 verbot die Republik China das Füßebinden. Es wurde jedoch mit abnehmender Tendenz noch bis in die 1930er Jahre fortgeführt.

Nach Gründung der Volksrepublik China 1949 wurde der Brauch unter Mao Zedong endgültig verboten und geächtet, vermutlich weil die Regierung die Gleichberechtigung der Frau verlangte und Arbeitskräfte benötigt wurden. Frauen mit gebundenen Füßen mussten mit Sanktionen rechnen.

Normale und Lotusfüße im Vergleich

Heutzutage ist dieser Brauch sowohl verboten als auch unüblich geworden, da sich viele Chinesen, besonders in den Städten, am westlichen Schönheitsideal orientieren. Auch die früheren chinesischen Damenschuhe werden heutzutage nicht mehr produziert. Die letzte Fabrik, die Spezialschuhe für abgebundene Füße herstellte, schloss 1988. Noch heute leben in China ältere Frauen mit sogenannten Lotusfüßen.


Quelle: Die obige Beschreibung und die Bilder stammen aus dem Wikipedia-Artikel: “Füßebinden(China)”, lizenziert gemäß CC-BY-SA.

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