Sinnvoll oder Feigenblatt

Bleischürze beim Thorax (Update)

Karl-Heinz Szeifert 1 Aug, 2019 00:00

Welchen Einfluss hat eine Bleigummi-Abdeckung beim Patienten während einer Röntgen-Thorax-Untersuchung auf die Gonadenbelastung und bis zu welchem Alter ist Gonadenschutz sinnvoll.

Immer wieder wird die Frage gestellt, wie bei einer Thoraxaufnahme der Strahlenschutz angebracht werden muss: Schürze vorne, hinten oder rundum? Und bis zu welchem Alter ist das gefordert bzw. sinnvoll?

Am Beispiel der am häufigsten durchgeführten Thorax-Röntgenaufnahme hat die Uniklinik Basel in einer Studie bereits 1991 gezeigt, welch geringe Wirkung die Tragweise einer Bleigummi-Abdeckung auf die Gonadendosis hat. Bestätigt wird dies in einer Veröffentlichung im American Journal of Roentgenology vom Jan 2019.


Jetzt hat zudem die Strahlenschutzkommission (SSK) im Auftrag des Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) Empfehlungen mit wissenschaftlicher Begründung zur Verwendung von Patienten-Strahlenschutzmitteln bei der diagnostischen Anwendung von Röntgenstrahlung am Menschen erstellt. (Veröffentlicht im Bundesanzeiger am 18.6.2019). Demnach ist sowohl beim Thorax pa, als auch beim Thorax seitl. und anderen Untersuchungen kein Schutz mehr notwendig.

Ergebnis der Studie

  • Ein Schutz mittels Halbschürze auf der Filmseite reduziert die Gonadendosis zumindest beim Mann unwesentlich stärker als ein Schutz auf der Röhrenseite.
  • Richtiges Einblenden bringt allerdings das beste Ergebnis sowohl bei der Frau, als auch beim Mann.
  • Das Anlegen von Halbschürzen schadet nicht.
  • MTRA sollte bei der Auswahl der Strahlenschutzmittel eine statistisch abgesicherte strahlenbiologische Vernunft walten lassen.

Das ist aber bisher nur eine Empfehlung der SSK und noch kein rechtlich bindendes Werk. Diese Empfehlung ist Teil des "Standes von Wissenschaft und Technik". Höher im Rang steht die Sachverständigenrichtlinie - Anlage III "Erforderliche Patientenschutzmittel bei Röntgeneinrichtungen zur Untersuchung" - Schutzmittel müssen zumindest weiterhin vorgehalten werden. Ähnliches gilt für die Leitlinie der Bundesärztekammer. Hier wird das Anlegen von Schutzmitteln gefordert.

Beide Werke befinden sich derzeit in der Überarbeitung und werden möglicherweise die Empfehlung der SSK berücksichtigen.

Man sollte daher noch nicht von einem Rechtsanspruch auf Verzicht der Patientenschutzmittel ausgehen. Strahlenbiologisch ist die Empfehlung sicher ein Schritt in die richtige Richtung - Strahlenpsychologisch kann sie zu erheblichen Diskussionen führen.

Quelle: forum-strahlenschutzrecht


Welche Wirkung die unterschiedliche Tragweise der Bleigummi-Abdeckungen auf die Gonaden hat wird im nachstehenden Artikel erläutert und beschrieben.

Vorangestellt muss festgestellt werden, dass die Gonadenbelastung ohne Gonadenschutz bei einer Thoraxaufnahme lediglich 0,5 µGy bei der Frau und 0,2 µGy beim Mann beträgt. Das entspricht etwa einer mittleren natürlichen Strahlenexposition während etwa 2 Stunden bzw. einer halben Stunde. Mit einer Rundum-Schürze wären das noch bei einer Frau etwa 0,4 µGy und bei einem Mann nur noch 0,03 µGy Gonadenbelastung. Generell sind also die Organdosen außerhalb des Nutzstrahlenfeldes bei Thoraxaufnahmen sehr klein.

Wie nicht unbedingt erwartet, kann ein Schutz auf der Filmseite die Gonadendosis zumindest beim Mann stärker reduzieren als ein Schutz auf der Röhrenseite. Daraus kann geschlossen werden, dass die Rückstreuung vom Wandstativ grösser ist als die Durchlass- und Streustrahlung vom Röhrengehäuse inkl. Schwächung durch den Körper. An den Ovarien beträgt die Dosiseinsparung jedoch bestenfalls - d.h. bei allseitiger Abschirmung 15% und bei optimaler Einblendung. Dies ist im Strahlenschutz eine nur geringe Einsparung. Zumal es sich bei den Werten in (siehe Abb.2) um relative Werte zur Dosiseinsparung (beim Mann mit einer Rundum-Schürze bis zu 85%) handelt, die sich ja schon auf den sehr geringen Wert von 0,2 µGy beziehen!

Ausser den Gonaden gibt es natürlich noch weitere strahlensensible Organe wie rotes Knochenmark, Dickdarm, Lunge, Magen, Blase, Brust, Leber, Speiseröhre, Schilddrüse. Der erforderliche Strahlenschutz ist auch für diese Organe zu beachten.

Entscheidend für deren Dosen ist ihre Distanz zum Rand des Nutzstrahlenfeldes. Dies kann am wirkungsvollsten mit der Feldgröße und einer entsprechenden Einblendung beeinflusst werden.

Das richtige Einblenden nutzt viel mehr!

Es gibt wirkungsvollere Massnahmen als eine Bleigummiabdeckung zum Schutze des Patienten. Diese können zwar nicht so offensichtlich zur Schau gestellt werden wie eine „Bleischürze“, können aber wesentlich mehr zum Strahlenschutz beitragen.
Die zur technischen Durchführung von Röntgenaufnahmen berechten Berufsgruppen (MTA-R, MFA mit Röntgenschein, Ärzte mit Fachkunde, bzw. mit Kenntnissen im Strahlenschutz) müssen diese kennen und sie sinnvoll umzusetzen. Die Einblendung des Nutzstrahlenfeldes spielt hier unter anderem eine ganz entscheidende und wichtige Rolle.

Durch vermehrte Einblendung wird...

  • weniger Gewebe exponiert. (Eine Einblendung von 35 cm x 40 cm auf 30 cm x 35 cm bedeudet dass 25 % weniger Gewebe bestrahlt wird)
  • weniger Streustrahlung erzeugt. (Damit werden Organe ausserhalb des Nutzstrahlenfeldes weniger exponiert)
  • der Abstand zwischen Feldrand und Organen ausserhalb des Nutzstrahls vergrössert.
  • die Bildqualität wird deutlich verbessert. (Durch weniger Streustrahlung).

In Bezug auf die Ovariendosis hat die Einblendung einen wesentlich größeren Einfluss als die Verwendung einer optimalen Rundum-Bleigummiabdeckung (0.5 mm Pb), sofern einigermassen vernünftig oberhalb des Bleigummi-Randes eingeblendet wird. In diesem Fall lässt sich die Gonadendosis praktisch unabhängig von einer Bleigummiabdeckung durch unterschiedliche Einblendung bis zu einem Faktor 5 verändern. Durch 1 cm zusätzliche Einblendung des unteren Feldrandes wird die Ovariendosis um etwa 20% reduziert.

Was können wir tun?

Mit der Beachtung der folgenden Massnahmen kann die Strahlenexposition des Patienten so klein wie vernünftigerweise praktikabel gehalten werden:

  • kleinstmögliche Einblendung (In jedem Fall muss die Feldgrösse kleiner als die Filmgrösse bzw. kleiner als die Grösse des Bildempfängers sein. Voraussetzung dafür ist die Übereinstimmung von Licht- und Strahlenfeld.)
  • empfindliches Bildsystem (Film-Folien-Kombination, Durchleuchtung mit Speicherbild usw.)
  • regelmässige Konstanzprüfungen, Interpretation der Resultate und erforderliche Massnahmen einleiten.
  • Ausbildung des Personals in Indikationsstellung, Einstelltechnik und praktischem Strahlenschutz.
  • Die Gonadenbelastung ist heutzutage wegen weniger Gehäusedurchlassstrahlung aus Blenden und Strahlergehäuse, empfindlchere Bildempfänger relativ niedrig, aber nicht gleich null! Außerdem kann der größte Streustrahlenanteil, der im durchstrahlten Körper entsteht, und seinem Weg innerhalb des Patienten zu den Gonaden nimmt, eh nicht abgeschirmt werden. Das bestätigt auch eine Veröffentlichung des American Journal of Roentgenology über den Nutzen von Bleiabdeckungen.
  • Dennoch kann man die Nutzung der der Halbschürzen weiterhin erwägen, um so zumindest der nicht zu verachtenden positiven psychologischen Wirkung dieser Maßnahme auf die Patienten Rechnung zu tragen.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

  • Bleigummiabdeckungen in Form von Halbschürzen bringen praktisch keinen Nutzen für die Patienten (obwohl sie in der Röntgenverordnung - als Minimalausrüstung mit einem Bleiäquivalent von 0.25 mm - gefordert sind).
  • Wenn Bleigummiabdeckungen nutzbringend angewendet werden sollen, dann müssen Rundumschürzen mit einem Bleiäquivalent von 0.5 mm oder Hodenkapseln (1 mm Blei) verwendet werden.
  • Die Dosen an Organen ausserhalb des Nutzstrahls (insbesondere der Gonaden) sind heute aufgrund verbesserter technischer Voraussetzungen und verbesserter Ausbildung (Einblendung) wesentlich kleiner als vor zehn Jahren.
  • Eine Bleigummiabdeckung beim Mann (Hodenkapsel) ist sinnvoll und wirksam bei Röntgen- und CT-Aufnahmen im Abdomen- und Becken-Bereich, sowie CT-Untersuchungen. Bei einer Durchleuchtung wird grundsätzlich die Anwendung von Bleigummi-Abdeckungen empfohlen.
  • Aber Achtung: Bei Durchleuchtungen ist die Anwendung von Bleigummiabdeckungen besonders sorgfältig zu beachten. Wenn der Nutzstrahl auf Bleigummi trifft, so kann wegen der automatischen Dosisleistungsregulierung die Strahlenexposition um mehr als das Zehnfache steigen. Deshalb empfiehlt die SSK bei der Fluoroskopie keine Patienten-Strahlenschutzmittel im Strahlengang anzuwenden.
  • Dem Strahlenschutz wird kein Dienst erwiesen, wenn der Patientin oder dem Patienten ein Schutz vorgetäuscht wird, der nicht vorhanden ist („Bleigummi-Deckmantel“). Es gibt wirkungsvolle Schutzmassnahmen, die zu beachten und einzuhalten sind.

Bis zu welchem Alter sind Bleiabdeckungen, bzw Hodenkapseln anzulegen?

Es gibt beim Anlegen von Gonadenschutz, speziell auch der Hodenkapseln keine offizielle, d.h. strahlenschutzrechtlich tragbare Altersgrenze. Bis zu welchem Alter muss die Hodenkapsel jetzt angelegt werden? Es gibt z.B. 50-jährige Patienten, die sie ablehnen und mitteilen, sie seien sterilisiert. Andernfalls möchten manche 80-jährige sie unbedingt haben, weil sie sich an Charly Chaplin messen.

Nach dem einheitlichen Bewertungssystem der ärztlichen Stellen (ÄSt.en) Version 8.01 (02/2017) wird bei Frauen bis 50 Jahren das Fehlen oder fehlerhafte Anlegen eines Gonadenschutzes und bei Männern bis 60 Jahren das Fehlen oder nicht umschließende Anlegen einer Hodenkapsel bemängelt. Es sei denn, es liegt dokumentiert in der rechtfertigenden Indikation eine nachvollziehbare Begründung für das Nichtanlegen des Schutzes vor. (Z.B.:Polytrauma)

Dennoch sollte man auch stets beim Anlegen bzw. Anbieten von Gonadenschutz bei Röntgenuntersuchungen bei Mann und Frau eine gewisse statistisch abgesicherte strahlenbiologische Vernunft walten lassen.

"Im Strahlenschutz wiegt ein Gramm Gehirn mehr als eine Tonne Blei!" - Felix Wachsmann, 1965

Noch ein Tipp zum Schluss: Eine kurze Anleitung zum richtigen Anlegen einer Hodenkapsel gibt es zum Free-Download unter: www.medical-solution-team.de


Siehe auch unseren Beitrag: Patientenschutz in der Röntgendiagnostik


Quellennachweise:

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Kommentare

Goßrau-Mucha, Astrid vor 13 Jahre

Sehr verständnissvoller, aussagekräftiger Artikel.Werde ich mir ausdrucken und in der Praxis auslegen.Vielen Dank

Sebi vor 7 Jahre

Super Artikel.
Es wird viel darüber gestritten jetzt habe ich was belegbares dazu gefunden.
Schön weiter so..... :)

Anm. d. Red.:
Vielen Dank für das Lob! Freut uns natürlich sehr!